Arendt, T.: Ist die sporadische Alzheimer-Krankheit eine angeborene Hirnentwicklungsstörung? – Einzelartikel aus SI 1/2024

Die Alzheimer-Krankheit (AD) ist eine neurodegenerative Erkrankung des höheren Lebensalters, die speziell beim Menschen auftritt. Der klinischen Phase, die durch eine Beeinträchtigung der physischen, psychischen und sozialen Funktionen gekennzeichnet ist, geht eine lange klinisch stumme Phase von mehreren Jahrzehnten voraus, die möglicherweise bereits sehr früh im Leben beginnt. Insgesamt nehmen die wichtigsten funktionellen Fähigkeiten bei Alzheimer-Patienten in umgekehrter Reihenfolge der Entwicklung dieser Fähigkeiten in der Kindheit und Jugend ab. Frühe Symptome der Alzheimer-Krankheit betreffen damit typischerweise geistige Funktionen, die erst während der jüngsten Evolution der Hominiden erworben wurden und als solche spezifisch für den Menschen sind. Die neurofibrilläre Degeneration, eine typische neuropathologische Läsion der Krankheit und eines der stärksten pathologischen Korrelate der kognitiven Beeinträchtigung, wird bei nicht primaten Säugetieren nur selten beobachtet, und selbst nicht menschliche Primaten entwickeln kaum eine mit AD-Patienten vergleichbare Pathologie. Die neurofibrilläre Degeneration ist nicht zufällig über das AD-Gehirn verteilt. Sie betrifft bevorzugt Hirnareale, die im Lauf des evolutionären Prozesses der Encephalisation immer stärker in den Vordergrund treten. Während des Fortschreitens der Erkrankung werden zunehmend Hirnbereiche in einer stereotypen Abfolge von der Pathologie betroffen, die einer Umkehrung des ontogenetischen Reifeprozesses entspricht. Die vorliegende Arbeit fasst jüngste Belege zusammen, die darauf hindeuten, dass die Ursachen der Alzheimer-Krankheit in Mechanismen zu suchen sind, die der phylogenetischen Hirnentwicklung und ontogenetischen Hirnreifung zugrunde liegen.
Autor: Thomas Arendt