Dodegge: Pharmakologische (Zwangs-)Behandlung unter den Bedingungen des betreuungsrechtlichen Paradigmenwechsels – Einzelartikel aus R&P 2/2024

Die Reform des Betreuungsrechts hat zum 1.1.2023 zu einem Paradigmenwechsel geführt. Anstelle des Wohls treten Wunsch und (mutmaßlicher) Wille des Betreuten als Handlungsrichtlinie für den rechtlichen Betreuer. Die Auswirkungen der Reform auf das Verhältnis zwischen Arzt und – rechtlich betreuten – Patienten verändern sich im Außenverhältnis aufgrund des Umstandes, dass der rechtliche Betreuer nicht mehr vorrangig als rechtlicher Vertreter handeln soll, sondern stattdessen die Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit des rechtlich betreuten Patienten stärkt und fördert. Es zeigt sich aber, dass die Reformansätze letztendlich weitgehend nur die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung in gesetzliche Normen überführen.
Das neue normative Verständnis der Tätigkeit des Betreuers hat im Rahmen von ärztlichen (Zwangs-)Maßnahmen zwar zu gesetzlichen Änderungen geführt, die im Ergebnis indes nicht zu anderen Bewertungen führen, was am Beispiel der Gabe von Androcur näher beleuchtet wird. Dies geschieht auf dem Hintergrund, dass gerade sexuelle Übergriffe durch Menschen mit einer Störung der intellektuellen Entwicklung eine Herausforderung für ihre Begleiter, seien es Familien oder Mitarbeitende von Diensten und Einrichtungen der Eingliederungshilfe, darstellen. Sie lösen Angst und Ablehnung aus. Nicht selten kommt es zu Ausgrenzungen aus Wohn- oder Beschäftigungsangeboten oder zu strafrechtlichen Konsequenzen bzw. zur Anordnung von Maßregeln. Oft werden Psychiaterinnen und Psychiater von Angehörigen, von rechtlichen Betreuern oder aus Diensten und Einrichtungen um Hilfe gebeten, nicht selten mit der Erwartung, mittels pharmakologischer Interventionen das Problem zu lösen. Der Mangel an verfügbaren sozio- und psychotherapeutischen Angeboten sowie das Fehlen von Ressourcen und Kompetenzen bei den Leistungsanbietern der Eingliederungshilfe wirken sich hier nachteilig aus. Ärztliche Behandlungen dieser Patienten ohne Beachtung betreuungsrechtlicher Vorgaben birgt das Risiko strafrechtlicher Sanktionen.
Schlüsselwörter: Rechtliche Betreuung, Paradigmenwechsel, Beachtlichkeit von Wunsch und Wille, ärztliche Zwangsbehandlung, betreuungsgerichtliche Genehmigungsvorbehalte