Steinert, T.: Die Doppelfunktion der Psychiatrie – Einzelartikel aus R&P 1/2021

Die sogenannte Doppelfunktion der Psychiatrie von Helfen und Heilen einerseits und einer Ordnungsfunktion mit Eingriffen in Freiheitsrechte andererseits steht in den letzten Jahren wieder vermehrt in der Kritik. Kritik wird vorwiegend unter Bezugnahme auf die UN-Behindertenrechtskonvention geäußert, Kritik könnte aber auch aus ärztlich-berufsrechtlicher und aus historischer Perspektive geäußert werden. In dem Beitrag wird dargelegt, dass sich die ordnungsrechtliche Funktion daraus ergibt, dass Menschen mit schweren Funktionsstörungen des für die Willensbildung zuständigen Organs, des Gehirns, behandelt werden. Das Kriterium für die Legitimation von Eingriffen in Freiheitsrechte ist nicht die Diagnose einer psychischen Erkrankung, sondern die Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit. Auch neurologische Erkrankungen des zentralen Nervensystems können zu einer derartigen Beeinträchtigung führen. Ethisch und haftungsrechtlich besteht in vielen Fällen nicht nur eine Legitimation, sondern eine Verpflichtung zu Eingriffen in Freiheitsrechte. Eine medizinethische Legitimation kann dagegen nicht hergeleitet werden, wenn ausschließlich Interessen Dritter maßgeblich sind. Die Legitimation der Anwendung gesetzlich verankerter Ordnungsfunktionen ist auch stets bezüglich der Verhältnismäßigkeit von abzuwendender Gefahr und Eingriffstiefe, der Beachtung der Menschenwürde bei der Durchführung von Maßnahmen und der obligatorischen Voraussetzung der fehlenden Fähigkeit zur freien Willensbildung zu überprüfen.
    Schlüsselwörter: Psychiatrie, Fachgebiet, Zwang, Gesetz, Ethik
      The double function of psychiatry
        The so-called double function of psychiatry of helping and healing on the one hand and a social order function with interference with individual rights on the other has been increasingly criticized in recent years. This criticism is primarily expressed with reference to the UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, but could also be deducted from the professional code of physicians and from a historical perspective. The article explains that the social order function of psychiatry results from the fact that people with severe dysfunctions of the organ responsible for decision-making, the brain, are treated. The criterion for the legitimation of interference with individual rights is not the diagnosis of a mental illness, but the impairment of the ability to make decisions. Neurological diseases of the central nervous system can also lead to such impairment. In many cases, ethically and in terms of liability law, there is not just a legitimation, but an obligation to intervene in civil liberties. A medical-ethical legitimation, however, cannot be derived if only interests of third parties are relevant. The legitimation of the use of legally anchored regulatory functions must also always be critically examined with regard to the proportionality of the danger to be averted and the depth of the intervention, the observance of human dignity in the implementation of measures, and the mandatory requirement of the lack of ability to form a free will.
          Keywords: psychiatry, medical field, coercion, law, ethics
            DOI: 10.1486/RP-2021-01_28