Thoma, S.: Neurodegeneration, Hirnmythologie und Solidarität – Gratisartikel aus SI 1/2024
»Demenz« ist ein schillernder Begriff, in dem sich existenzielle Ängste, wissenschaftliche
Erkenntnis und Prozesse von sozialem Ein- und Ausschluss ineinander verschränken.
Im diesem Essay vertrete ich die These, dass Demenzen letztlich paradigmatisch
für die Vormachtstellung eines medizinisch-neurobiologischen Verständnisses psychischer
Erkrankungen stehen, und zwar sowohl was deren Entstehung und Diagnose als auch deren
Behandlung anbelangt. In Verbindung mit diesem Modell steht dann die wissenschaftlich
genährte gesellschaftliche Erzählung (altgr. mythos) über das Gehirn als der Ort, an dem sich
unsere Verrücktheit und Endlichkeit austragen – und der Medizin als deren Ausweg. Verdrängt
werden durch die Vormachtstellung dieser Erzählung Fragen der Demut und der menschlichen
Solidarität.