Thoma, S.: Zerbrechliche Offenheit. Überlegungen zu Henri Maldineys phänomenologischer Schizophrenietheorie – Einzelartikel aus SI 1/2022

Zerbrechliche Offenheit. Überlegungen zu Henri Maldineys phänomenologischer Schizophrenietheorie
Im vorliegenden Text setze ich mich mit der Schizophrenietheorie des französischen Phänomenologen Henri Maldiney auseinander. Zunächst skizziere ich selektiv einige Grundzüge des phänomenologischen Verständnisses psychischer Erkrankungen im Allgemeinen und der Schizophrenien im Besonderen. Der Hinweis auf kritische Aspekte dieses Verständnisses erlaubt es mir dann, die besondere Originalität von Maldineys Psychosentheorie und des damit verbundenen Krankheitsbegriffs darzustellen: Maldiney versteht die Schizophrenie als einen radikalen menschlichen Erfahrungsmodus, der eine Reaktion auf überwältigende Ereignisse bildet. Radikal ist dieser Erfahrungsmodus deshalb, weil er auf die Wurzel des Menschen zurückgeht, nämlich auf seine unvorwegnehmbare Offenheit für überraschende (und potenziell traumatisierende) Ereignisse, die wir im Alltag verdrängen. Menschen, die sich in diesem Modus befinden, erinnern uns alle an diese Zerbrechlichkeit. Schizophrene Erfahrungsmodi sind sowohl Beleg für diese Offenheit und Zerbrechlichkeit, da sich in ihnen überfordernde Ereignisse ausdrücken, als auch Verlust dieser Offenheit, da sie, etwa in Form von Wahngedanken, verhindern, weitere neue Ereignisse zu erfahren. Maldineys Schizophrenieverständnis erscheint insofern originell, als es Schizophrenie nicht als Defizit im Gegensatz zu einer »gesunden Normalität« versteht, ebenso wenig Schizophrenie aber als Befreiung von oder Auflehnung gegen Normalität romantisiert. Für Maldiney ist Schizophrenie stets beides: Emphase unseres Seins außerhalb der Normalität und Verlust unseres Seins im Angesicht eines Abgrundes. Meine Betrachtung schließt mit einer kritischen Bewertung von Maldineys Theorie und Methodik.
Autor: Samuel Thoma