Auszug aus dem Lehrbuch: »Medikamentenbehandlung bei psychischen Störungen. Leitlinien für den psychiatrischen Alltag«, von Asmus Finzen, Harald Scherk und Stefan Weinmann:
»Der Titel des vorliegenden Buches ist Programm: Medikamentenbehandlung bei psychischen Störungen und nicht etwa: Medikamentenbehandlung psychischer Störungen. Auch nach sechzig Jahren Psychopharmakotherapie gibt es kein Medikament, das eine psychische Krankheit heilen könnte.
Als die erste Auflage dieses Buches 1979 erschien, war dies eine Binsenweisheit. Seither sind viele Erkrankte und Therapeuten dem von interessierter Seite gepflegten Mythos und eigenen Heilserwartungen aufgesessen, indem sie glauben, Psychopharmaka wirkten ursächlich. Das ist bis zu einem gewissen Grade verständlich, denn manche psychischen Krankheiten sind mit so großem Leid verbunden, dass man glauben möchte, man könnte sie heilen, wenn man nur zum richtigen Medikament greife.
Leider ist das Unsinn. Wir wissen viel zu wenig über die biologischen Hintergründe psychischer Störungen, als dass man auch nur an den Versuch denken könnte, in ihr Ursachengefüge mit Medikamenten eingreifen zu können.
Mit anderen Worten: Psychopharmaka wirken symptomatisch. Das ist kein Grund, sie gering zu schätzen. Zwar lösen die Medikamente die Probleme psychisch kranker Menschen nicht, richtig angewandt können sie ihnen dennoch helfen und dazu beitragen, ihre Leiden zu lindern und ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Medikamente seit Jahrzehnten aus dem psychiatrischen Alltag nicht mehr wegzudenken sind.
Weil das so ist, ist eine kritische – und eine selbstkritische – Haltung angebracht. Umso bedauerlicher ist es, dass viele Therapeuten deutlich weniger Mühen auf den Erwerb von Kenntnissen im Umgang mit Medikamenten aufwenden, als sie sie in ihre psychotherapeutische Ausbildung investieren. Dass Medikamentenbehandlung eine simple Sache sei, ist ein folgenschwerer Irrtum, der viel Leid über die Kranken bringt.«