Was können wir tun, um der Gewalt zu begegnen, dem Risiko von Gewalterfahrung entgegenzuwirken – im Zusammen-hang mit der Entstehung, dem Verlauf und der Behandlung psychischer Erkrankungen? Psychisch erkrankte Menschen wurden und werden häufig Opfer, deutlich seltener auch Täter. Viele gewaltsame oder sexuelle Übergriffe geschehen im »Nahbereich«; d.h. auch Angehörige können unter großer Belastung Täter und Opfer sein. (sind in doppelter Hinsicht beteiligt.).
Auch in der Psychiatrie können Zwang und Gewalt in vielen Formen präsent sein – ausgehend von Patienten, vom Personal, von Wachdiensten, institutionell oder informell …. Im Trialog begegnen sich also (potentielle) Opfer und Täter – Hilft uns das, von einander zu lernen? – Was bedeutet in diesem Zusammenhang traumsensible Behandlung? Welche Strukturen, Konzepte, Methoden und Beziehungskulturen helfen uns, die Wahrscheinlichkeit von Gewalt zu reduzieren? Wie halten wir aus und verstehen wir, dass Familien sehr oft elementar wichtig sind als Rückhalt und Zuflucht, manchmal aber als Ort von Gewaltentstehung werden können? Und hilft uns die Erkenntnis, dass das auch unabhängig von psychischen Erkrankungen gilt, dass die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen zu Gewalt zunächst mal nichts mit psychischer Erkrankung zu tun hat?
Trauma-sensibel behandeln
Prof. Ingo Schäfer, Spezialambulanz für Traumafolgestörungen, UKE Hamburg
Bestimmte Erfahrungen zwingen jeden von uns, aus der Realität auszusteigen. Auf diese Weise können Gewalterfahrungen auch zu psychischer Erkrankung beitragen. Vor allem soziale Beziehungen entscheiden, ob die Resilienz stärker ist. Noch ist die Psychiatrie vielfach zu unbeholfen mit dem Thema; tragen manche Strukturen und Erfahrungen zur Retraumatisierung bei. Was bedeutet es in diesem Zusammenhang trauma-sensibel zu behandeln? Wie kann die Psychiatrie die Folgen von Gewalterfahrungen bei Betroffenen besser erkennen und statt weiterer Belastungen zu ihrer Heilung beitragen? Prof. Schäfer gehört zu den führenden Experten zu Traumatisierungen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Gemeinsame Sensibilisierung gegen Gewalt und Zwang
Dr. Candelaria Mahlke, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, UKE
Das Erleben von Zwangsmaßnahmen kann sehr nachhaltig verunsichern, das Vertrauen in die Psychiatrie erschüttern, alte traumatische Erfahrungen beleben. Das mitzubekommen, ist in einer leider zunehmend arbeitsteiligen Psychiatrie nicht selbstverständlich. Aber wertvoll. Umgekehrt kann es auch für die betroffenen PatientInnen wichtig sein, mitzubekommen, dass Profis (hoffentlich) nicht leichtfertig Zwang ausüben, auch selber unter dieser Erfahrung leiden können. Das spricht für mehr Kontinuität im Umgang mit Krisen, für mehr Mobilität, für mehr systematische Nachbesprechungen wie auch für jede Art von Prävention. Es spricht aber auch für subjektorientierte Fortbildungen, in denen beide Seite authentisch zu Wort kommen. Von der trialogischen Entwicklung einer solchen Fortbildung berichtet Frau Dr. Candelaria Mahlke im Gespräch mit Thomas Bock. Nebenbei wird spürbar, welchen Wert partizipative Forschung in diesem Zusammenhang hat – ein Beitrag zur Sensibilisierung gegen Zwang und Gewalt.
Strukturelle Gewalt in der Psychiatrie – und mögliche Alternativen
Prof. Dr. Thomas Bock im Gespräch mit Dr. Lieselotte Mahler
Psychiatrie muss zuallererst Begegnungsraum sein. Dieselben Strukturen, die Begegnung erschweren, erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Zwang und Gewalt – zum Nachteil aller Beteiligten. Die Unterschiede im europäischen und im nationalen Vergleich sind erschreckend; sie haben am wenigsten mit Merkmalen der Patient*innen zu tun.
Der Dialog ist ein engagiertes Plädoyer für die Vermeidung von Zwang und Gewalt – auf allen Ebenen. Und für ehrliche Nachbesprechungen, wenn es doch dazu kommt, um die Symmetrie der Beziehung wiederherzustellen. Auch brisante Themen werden angesprochen: Gibt es eine Zunahme von Gewalt unter Patient*innen oder in der Gesellschaft? Oder sind wir sensibler? Wird Gewalt psychiatrisiert? Wo sind wir zuständig und wo nicht? Wie sorgen wir uns um eine »Würde des Risikos«?
Wenn Nähe gefährlich wird – Gedanken zum Schutz von Familien
Prof. Dr. Thomas Bock im Gespräch mit Prof. Dr. Michaela Amering
Psychiatrie muss zuallererst Begegnungsraum sein. Dieselben Strukturen, die Begegnung erschweren, erhöhen die Familie zu haben ist der wichtigste Prognosefaktor für einen positiven Verlauf von Psychosen. Zugleich ist der Nahbereich der Ort, an dem Menschen füreinander bedrohlich und gefährlich sein können – in beide Richtungen: So können gewaltsame und sexuelle Übergriffe zu Psychosen beitragen. Und umgekehrt kann das Risiko, sich durch Nähe bedroht zu fühlen, durch Psychosen gesteigert sein. Familie als Schutzraum und Tatort zugleich! Ein Grund zu verzweifeln? Oder Ausdruck der Spannweite des Lebens? Auf jeden Fall ein Argument für den Trialog und für eine lebensnahe Psychiatrie.
Michaela Amering macht deutlich, dass das Ringen um Autonomie und die Ambivalenz von Bindung zutiefst menschlich ist. Sie berichtet von den Erfahrungen des Trialogs auf internationaler Ebene und interpretiert Dorothea Bucks Kernargument für den Trialog neu: Wenn wir uns wahrnehmen und wirklich miteinander reden, bringen wir uns zumindest nicht um! In der Psychiatrie! Und in Familien!?
Warum psychische Krankheit Gewalt nicht erklärt
Prof. Dr. Thomas Bock im Gespräch mit Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber
Spektakuläre Morde werden oft vorschnell mit psychischer Erkrankung in Verbindung gebracht. Mit stigmatisierenden Folgen, zu denen die Medien beitragen. Die Angst vor psychisch Erkrankten wird so entgegen der statistischen Wahrscheinlichkeit immer weiter geschürt. Schützen wir uns so vor der Einsicht in das Menschen-Mögliche? Wenn Menschen gewalttätig werden, hat das fast immer andere Gründe als die der psychischen Erkrankung. Seit Kain und Abel töten Menschen – aus Habsucht, Eifersucht, Gier … oder in Kriegen potenziert durch gesellschaftliche / wirtschaftliche Interessen.
Viel häufiger werden Menschen mit psychischer Sensibilität / Erkrankung Opfer – aus unterschiedlichen Gründen. Der Referent ist führender Forensiker, hat also viel Einblick in die Abgründe unserer Seele. Im Gespräch geht es auch um die allgemeinen Lebenserfahrungen biographische Hintergründe von Tätern, um Gewalt in der Psychiatrie und um die Frage, ob Gewalt gesellschaftlich wirklich zunimmt oder eher unsere Sensibilität für dieses Thema. Ein humanistisches Plädoyer für Respekt gegenüber allen Menschen, ihrer Gewordenheit und ihrer Entwicklungschancen.
Der Gewalt begegnen – und ihr vorbeugen
Ein trialogisches Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Bock, Gwen Schulz, Dr. Sabine Schütze und Marion Ryan
Im Trialog begegnen sich potentielle Opfer und Täter – auf allen Seiten und Ebenen. Die Familie ist für sehr viele wichtigster Schutzraum und gleichzeitig manchmal Tatort. Schaffen wir das gemeinsam zu thematisieren? Gewalterfahrung spielt eine Rolle bei der Entstehung, im Verlauf und bei der Behandlung vieler psychischer Erkrankungen. Wie können wir das Risiko traumatischer Erfahrungen reduzieren? Was muss geschehen zum Schutz des Nahbereichs? Wie muss eine Psychiatrie aufgestellt sein, die weitgehend ohne Zwang auskommt und zugleich Übergriffen von und zwischen PatientInnen wirksam begegnet? Wie können präventive Maßnahmen, Trauma-sensible Hilfen, aufsuchende Teams, Peer-Support und eine insgesamt andere Konzeption von Akutpsychiatrie dazu beitragen?
»Die Geträumten« – zu Ingeborg Bachmann und Paul Celan
Prof. Dr. Thomas Bock, Dr. Torsten Flögel, Verena Kammerer
Im Trialog begegnen sich potentielle Opfer und Täter – auf allen Seiten und Ebenen. Die Familie ist für sehr viele wichtigster Schutzraum und gleichzeitig manchmal Tatort. Schaffen wir das gemeinsam zu themSprachlich wunderschön und vielschichtig sind die Gedichte Paul Celans und Ingeborg Bachmanns. Ihre Texte sind auch als ein Ausdruck von Erfahrungen von Gewalt und Zerstörung des 20. Jahrhunderts zu lesen. Beider Leben endete in Selbstzerstörung. In ihren Werken haben Celan und Bachmann einander dialogisch zugespielt und aufeinander angespielt, sowohl in ihrem Briefwechsel (»Herzzeit«) als auch in ihrer Lyrik und Prosa. Wir erinnern an diese beiden großen Dichter der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.
Buchtipps
Alle, die bei den angesprochenen Themen und dem Thema »Anthopologische Psychiatrie« noch weiter in die Tiefe wollen, möchten wir folgende Bücher ans Herz legen:
Prävention von Zwangsmaßnahmen – Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie
Expertinnen und Experten beschreiben praxisnah die neuen Rahmenbedingungen, die aktuelle Forschungslage und die alltäglichen Herausforderungen, sodass Leitungskräfte und Mitarbeitende von Leistungsanbietern und Kostenträgern mit der Lektüre dieses Buches für die wichtigste Reformstufe des BTHG gut aufgestellt sind.
Safewards – Sicherheit durch Beziehung und Milieu
Das Safewards-Modell bietet nicht nur eine Erklärung für die Entstehung und Eskalation von Konflikten auf Station, sondern auch konkrete Interventionen zu ihrer Prävention. Erfahrungen aus dem deutschsprachigen Raum zeigen die Praktikabilität für verschiedene Settings der Akutpsychiatrie, der Suchtbehandlung, der Forensik und der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf, aber auch die Fallstricke bei der Implementierung.
Ethik in der Psychiatrie – Ein Praxisbuch
Ein interdisziplinär ausgerichtetes Praxisbuch bietet Hilfestellung bei schwierigen ethischen Konflikten in psychiatrischen Arbeitsfeldern. Es informiert über Grundlagen und Rahmenbedingungen, gibt Kriterien für eine ethische Entscheidungsfindung an die Hand und diskutiert Fälle aus dem Arbeitsalltag aller beteiligten Berufsgruppen.
Selbstbestimmung und Solidarität – Unterstützte Entscheidungsfindung in der psychiatrischen Praxis
Dieses Buch lotet die Möglichkeiten unterstützter Entscheidungsfindung in der psychiatrischen Praxis aus. Neben der Darstellung spezifischer Herausforderungen bei bestimmten psychischen Störungen finden sich darin viele praktische Hinweise für die Betreuung, Begleitung und Therapie, insbesondere in kritischen klinischen Situationen. Empfehlenswert für alle Akteure im psychiatrischen Hilfesystem.
Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen – Ein Praxisleitfaden
Die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie belastet alle daran Beteiligten. Oft fehlen Raum und Struktur für eine gemeinsame Reflexion des Erlebten. Die Arbeitshilfe zur standardisierten Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen entstand aus der langjährigen Erfahrung der Autorinnen und des Autors. Sie lädt dazu ein, Betroffenen und Mitarbeitenden die Gelegenheit zu geben, eine vielleicht traumatische Erfahrung zu bearbeiten und sensibilisiert für die Bedürfnisse des Gegenübers.